Wen die Wanderlust packt

Eine große Sonderausstellung in der Berliner Nationalgalerie präsentiert ein altes Thema neu

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„Wanderlust“ – so lautet der Titel einer beeindruckenden Ausstellung in der Alten Nationalgalerie in Berlin, die bis Mitte September durchwandert werden kann.

Das Kunstmuseum präsentiert Werke von Meistern wie Caspar David Friedrich, Carl Blechen, Karl Friedrich Schinkel und Johan Christian Dahl, zeigt Bilder von Gustave Courbet, Ferdinand Hodler, Auguste Renoir und Paul Gauguin. Die Kuratoren verdeutlichen, wie wirkmächtig und fruchtbar das Motiv des Wanderns für die Kunst des gesamten 19. Jahrhunderts war, nicht nur in Deutschland, sondern auch von Frankreich bis Norwegen, von Russland bis in die USA.

Wanderlust – Ausstellung in der Alten Nationalgalerie, Berlin ∙ bis zum 16. September täglich 10 bis mindestens 18 Uhr (montags: Ruhetag) ∙ Eintritt: 12/6 Euro
www.wanderlustinberlin.de

Die Ausstellung wird thematisch in verschiedene Kapitel gegliedert: „Entdeckung der Natur“, „Lebensreise“, „Künstlerwanderung“, „Spaziergänge“, „Wanderlandschaften diesseits und jenseits der Alpen“. Bedeutende Leihgaben aus wichtigen internationalen Museumssammlungen bereichern die ausgewählten Werke aus der eigenen Sammlung. Die Nationalgalerie kann so eine um die 100 Werke umfassende Großausstellung zum Thema „Wanderlust“ präsentieren.

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„Wanderlust oder der Traum vom Paradies“ – das war der Titel einer Ausstellung in Eisenach zur Kulturgeschichte des Wanderns, die Ulrich Grober veranlasste. Der Autor formulierte in seinem „Plädoyer für das Neue Wandern“ fünfzehn Thesen über das moderne Wandern (NATURFREUNDiN 2/2017). Darin heißt es: „Das Neue Wandern ist Einspruch gegen den Stress der Beschleunigung.“ Das mag stimmen, ist aber nicht neu, sondern mehr als hundert Jahre alt.

Die Zumutungen der Beschleunigung im Kapitalismus hatte die Bourgeoisie an der Schwelle zum 20. Jahrhundert selbst erschreckt. Nervöse Leiden, die sogenannte Neurasthenie, beschäftigte die Salons. Die Flucht aufs Land und die Sehnsucht nach Wildnis erfassten den Wohlstandsbürger, der sich fragte, ob er noch richtig lebte. Der Anfang einer Lebensreform, der Reformhäuser, der Frage des „guten Essens“, der „Kleidung“, der „Bewegung“. So etwas wurde politisch, wohlgemerkt vor der Jahrhundertwende 1900.

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John Muir, einer der bedeutendsten Naturschützer des 19. Jahrhunderts in den USA und Namensgeber des Naturfreundehauses Muirhouse in Kalifornien, schrieb 1898: „Tausende von erschöpften, nervenzerrütteten, überzivilisierten Menschen sind dabei, herauszufinden, dass der Weg in die Berge ein Weg nach Hause ist, dass Wildnis eine Notwendigkeit ist und dass Bergparke und Schutzgebiete nicht nur Quellen von Holz und von Flusswasser, sondern Quellen des Lebens sind."

Da ist sie wieder, die Wanderlust, verknüpft mit der Idee der Nationalparke. Muir trifft 1903 im Yosemite-Nationalpark den amerikanischen Präsidenten Theodor Roosevelt, der sich dazu bekennt, seine „Nervousness“ mit der Kraft der Natur zu bändigen.

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Interessant erscheint, dass Literatur und Malerei in Deutschland die Wanderlust im 19. Jahrhundert entdecken, just als für einen Großteil der Bevölkerung der „Wanderzwang“ beginnt. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft ab 1810 in Preußen, dem „Hungerjahr 1817“, der beginnenden Industrialisierung ab 1830 werden Millionen gezwungen, das Land zu verlassen. Allein sechs Millionen Deutsche wandern nach Amerika aus, mehr als 25 Millionen Menschen ziehen im Laufe des Jahrhunderts vom Land in die Stadt.

Unter den erbärmlichen Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen der Großstadt entsteht erst am Ende des Jahrhunderts so etwas wie Wanderlust auch in der Arbeiterklasse, die sich aber auf die Sonntage und den Nahbereich beschränkt und die nicht den einsamen Wanderer hochstilisiert, sondern die Massenwanderung. 1895 gründen sich die NaturFreunde.

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Der Proletarier unter den Gründern der NaturFreunde war Alois Rohrauer, der wie viele seiner Genossen die Transformation vom Handwerker zum industriellen Facharbeiter durchlief. Für ihn war die Arbeit mit Wanderzwang verbunden, den er geschickt mit politischer Wanderlust verband. Auf seiner Arbeitswanderung gründete er an die fünfzig Ortsgruppen der NaturFreunde.

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Wanderlust ist ein wirkmächtiges Zauberwort. #wanderlust bringt es bei Instagram auf Zig Millionen Einträge, kaum ein anderes deutsches Wort ist so international. Im Englischen bedeutet „Wanderlust“ die Sehnsucht nach der Ferne oder der innere Antrieb nach Freiheit.

Im spanischen Bildungsbürgertum ist das Wort ebenfalls geläufig, sodass Audi bei seiner Zielgruppe jüngst mit ganzseitigen Anzeigen in Illustrierten für sein SUV (Vorstadtpanzer) mit dem Slogan „Alimenta tu Wanderlust“ warb, also: „Nähre deine Wanderlust“.

In Paris kann man am Quai d`Austerlitz direkt an der Seine seiner „Wanderlust“ nachgehen – in einem angesagten Tanzlokal gleichen Namens. In Singapur mag man sein müdes Haupt im Wanderlusthotel betten, in Edinburgh seinem Spaziergang in einem netten Café „Wanderlust“ unterbrechen. „Wanderlust“ ist international.

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„Wanderzwang“ haben wiederum die nach Deutschland Geflüchteten erlebt. In den laufenden Integrationsprojekten der NaturFreunde wird deutlich, dass die Erfahrungen auf der Balkanroute die „Lust am Wandern“ bei den endlich Angekommenen in engen Grenzen hält.

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In der Berliner Nationalgalerie kann man der „Wanderlust“ dagegen mit Gruppenführungen nachgehen. Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ aus der Hamburger Kunsthalle bildet dabei den Ausgangs- und Höhepunkt der Sonderausstellung. Wer lieber allein sein will, für den gibt es einen Audioguide – auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Weil „Wanderlust“ international ist. Und wirklich zu empfehlen.

Hans-Gerd Marian